Cover
Titel
Maurice Halbwachs. Aspekte des Werks


Herausgeber
Egger, Stephan
Reihe
Maurice Halbwachs in der édition discours 7, édition discours 22
Erschienen
Konstanz 2003: UVK Verlag
Anzahl Seiten
284 S.
Preis
€ 24,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gerald Echterhoff, Psychologisches Institut, Universität zu Köln

Der Name „Halbwachs“ kann seit einigen Jahren als Chiffre für das rasant gestiegene Interesse an der sozialen Dimension von Gedächtnis und Erinnerung gelten. Zwar müssen konzeptuelle Differenzierungen und vertiefte empirische Analysen, die Ansätze aus den verschiedenen Disziplinen auf innovative Weise verbinden, heute sicherlich als primäres Desiderat für die Erforschung von Gedächtnis im sozialen und kulturellen Kontext gelten.1 Doch ist auch der wissenschaftshistorische Rückblick auf die Ursprünge dieser Bemühungen aufschlussreich – etwa um den aktuellen Wissensstand vor dem Hintergrund des vergangenen besser einschätzen zu können, interdisziplinäre Kommunikationsmöglichkeiten offen zu legen oder die Wiederholung bereits ausgefochtener Debatten zu vermeiden.

Gerade gegen die einseitige Beschwörung der gedächtnistheoretischen Ahnherrenschaft von Maurice Halbwachs (1877–1945), gegen die entdifferenzierende Vereinnahmung durch die heutigen Sozial- und Kulturwissenschaften wendet sich Stephan Egger, der Herausgeber einer aktuellen Sammlung von Aufsätzen französischer Wissenschaftshistoriker und Sozialwissenschaftler (unter ihnen bedauerlicherweise weder eine einzige Autorin noch der Halbwachs-Experte Gérard Namer), die die verschiedenen Facetten von Halbwachs’ Œuvre beleuchten. In Geleitwort und Vorbemerkung beklagt Egger das Desinteresse insbesondere der deutschsprachigen Rezeption an dessen Gesamtwerk, das jenseits der Gedächtnisschriften nicht nur einen vielseitig engagierten und produktiven Sozialwissenschaftler offenbare, sondern auch eine weitgehend verkannte „gedankliche Einheit“ (S. 7). In der Tat dürfte vielen, für die der Name Halbwachs klangvoll ist, die Breite seiner Arbeiten kaum bekannt sein. Halbwachs, der in Rechtswissenschaften und Philosophie promovierte, beschäftigte sich nicht nur mit den damals zentralen soziologischen Themen wie gesellschaftlicher Klasse, Arbeit und städtischem Raum, sondern auch mit Fragen der Ökonomie, Geografie, Statistik, Psychologie und Physiologie.

Die nun vorliegende Aufsatzsammlung ist Teil einer insgesamt siebenbändigen Reihe, durch die der Universitätsverlag Konstanz die bisher weniger beachteten Arbeiten des Soziologen in deutscher Übersetzung zugänglich macht. Während man ein Namen- und Sachregister vermisst, ist die vollständige und aktualisierte Bibliografie hervorzuheben, die eine wichtige Quelle für Halbwachs-Interessierte darstellt. Sieben Essays, deren Originalfassungen in den späten 1990er-Jahren in verschiedenen französischen Publikationen erschienen, sowie eine abschließende Hommage von Pierre Bourdieu aus dem Jahr 1987 illustrieren detailreich die Vielfalt der wissenschaftlichen Tätigkeit des 1945 im KZ Buchenwald umgekommenen Halbwachs. Sie erwecken an vielen Stellen die spannende Entwicklung der Sozialwissenschaften aus der Zeit zwischen den Weltkriegen zum Leben, indem sie die disziplinären Abgrenzungsbemühungen und Paradigmenstreits anhand konkreter Beispiele vor Augen führen.

In einem gut geschriebenen und fundierten Beitrag schildert der Wissenschaftshistoriker Laurent Mucchielli die intellektuelle Auseinandersetzung mit dem Psychologen Charles Blondel. Halbwachs führte sowohl Gedächtnis- und Sprachstörungen als auch den Selbstmord, dessen Erforschung seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert die jungen humanwissenschaftlichen Disziplinen faszinierte, im Wesentlichen auf das Fehlen von sozialer Integration oder von Gruppenbindungen zurück. Hingegen beharrte Blondel auf der Unabdingbarkeit individuell verfüg- und erlebbarer Erinnerungsgefühle, der organischen Bedingtheit funktionaler psychischer Ausfälle sowie individualpathologischer Ursachen des Suizids. Im Grunde, so Blondel, verfolge Halbwachs einen „soziologischen Imperialismus“ oder „Pansoziologismus“ (S. 85). Mucchielli resümiert, dass der Schlagabtausch in einer konventionell anmutenden Kompetenzenteilung endete (der Soziologie die Gesellschaft, der Psychologie das Individuum). Offen bleibt, welche alternativen Wege eine „kollektive Psychologie“ einschlagen könnte oder für welche Gegenstandsbereiche (Gedächtnis, psychische Störungen, Sprache?) sich welche Arten der transdisziplinären Theoriebildung anbieten.

Da der Band als Kontrapunkt zur „Welle ‚kulturwissenschaftlicher‘ Aneignungen seines [Halbwachs‘, G.E.] Begriffs vom ‚kollektiven Gedächtnis‘“ konzipiert ist (Egger, S. 11), erstaunt es nicht, dass nur einer der Beiträge explizit dem allseits mit Halbwachs assoziierten Thema gewidmet ist. Das Autorenduo Jean-Christophe Marcel und der schon erwähnte Mucchielli verorten die Essenz seiner Gedächtnistheorie auf drei so genannten „Achsen“: die soziale Konstruktion der individuellen Gedächtnisse, das kollektive Gedächtnis von Gruppen sowie die Rolle des kollektiven Gedächtnisses auf der Makroebene von Gesellschaften und Kulturen. Den ersten Aspekt elaborieren Marcel und Mucchielli auf der Grundlage von Halbwachs‘ bekannter früher Schrift „Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen“ (1925), derzufolge individuelle Gedächtnisprozesse nur durch die Orientierung an sozialen Stützen und im (auch imaginierten) Dialog mit anderen eine kohärente Form gewinnen – eine Form, die etwa im Traum aus Mangel an sozialer Verankerung zerfällt. Die Darstellungen der zweiten und dritten Achse lassen ein auch heute noch zu beklagendes Defizit des Konzepts vom kollektiven Gedächtnis deutlich werden: die nicht zureichend beantwortete Frage nach den Trägern bzw. der sozialen Grundlage eines überindividuellen Gedächtnisses. Soll man von kollektivem Gedächtnis sprechen, wenn sich – wie in Familien – mehrere Personen bewusst an gemeinsame Erlebnisse erinnern, wenn das aktuelle Handeln und Denken der Angehörigen eines Kollektivs durch gemeinsame Repräsentationen (etwa Einstellungen und Wissensbeständen) beeinflusst wird oder wenn eine ganze Gesellschaft ihre Vergangenheit durch bestimmte Orte und Räume präsent hält? In diesem Punkt sind nach wie vor dringend konzeptuelle Differenzierungen geboten, wie sie etwa die jüngere Gedächtnispsychologie durch die Unterscheidung bewusster und nichtbewusster (impliziter) Gedächtnisprozesse oder verschiedener Gedächtnissysteme (prozedural, semantisch, episodisch) anzubieten hat.

Halbwachs‘ Arbeiten zu statistischen Methoden, sicherlich einer der am wenigsten bekannten Aspekte seines Werks, beleuchten die Aufsätze von Rémi Lenoir und Olivier Martin, die das ambivalente Verhältnis des Sozialwissenschaftlers zur Anwendung der Statistik betonen: Auf der einen Seite befürwortete Halbwachs die Institutionalisierung einer statistischen Soziologie und hielt allgemein die Statistik für eine zentrale Methode einer positiven empirischen Soziologie. Schon seine 1912 erschienene Dissertation zur Arbeiterklasse stützte sich wesentlich auf statistische Daten aus Deutschland, und bis ans Ende seines Lebens publizierte er regelmäßig Arbeiten zu Fragen der statistischen Datenanalyse. Auf der anderen Seite warnte er davor, die Ergebnisse statistischer Auswertungen mit einer Klärung der Ursachen sozialer Prozesse zur verwechseln, und verwahrte sich insbesondere gegen die sozialwissenschaftliche Verwendung wahrscheinlichkeitstheoretischer Modelle, die die Verteilung von Messfehlern oder verschiedener Merkmalsausprägungen beschreiben sollen. Bei aller Recherchetiefe und allem Informationsgehalt vermögen es die Essays von Martin und Lenoir jedoch nicht, Halbwachs‘ Auffassung zur Statistik vor dem Hintergrund aktueller Methodenstandards der Sozialwissenschaften kritisch zu perspektivieren. Beispielsweise scheint keiner der beiden Autoren die Möglichkeiten der Wahrscheinlichkeitstheorie oder komplexerer Korrelationstechniken bei der Erklärung von Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen (etwa durch Pfadanalyse oder Strukturgleichungsmodelle) zu kennen.2 Ebenso wenig berücksichtigt Martin die zentrale Unterscheidung von Messen (der Zuordnung von Zahlen zu Beobachtungen) und der mathematischen Weiterverarbeitung von Zahlen (Statistik), wenn er Einwände Halbwachs’ gegen eine mathematische Logik referiert (S. 159).3

Während diese Beiträge Halbwachs‘ Skepsis gegenüber der Anwendung statistischer Methoden hervorheben – gerade auch gegenüber der mathematischen Abstraktion in der Ökonomie –, lobt Philippe Steiner ihn im selben Band als „Wegbereiter einer quantitativ verankerten ökonomischen Wissenssoziologie“ (S. 67). Der teils widersprüchliche Gesamteindruck, der sich aus den versammelten Essays ergibt, mag auch mit der Heterogenität und ungewöhnlichen Vielgestaltigkeit von Halbwachs’ umfangreichem Werk zusammenhängen. Den Anspruch, dessen weit verzweigte Gedankenwelt und unermüdliche Explorationsfreude greifbar zu machen, kann der vorliegende Band durchaus erfüllen. Hingegen offenbart das Ensemble der Beiträge nur in Umrissen die vom Herausgeber postulierte Einheitlichkeit des Werkes, die „Mitte“ von Halbwachs’ Denken, die auch die engagiert vorgetragenen Bemühungen auf mehreren Seiten des Geleitworts nicht schlüssig nachweisen können. Sich in diesem Punkt auf eine „‚Wissenschaft vom Menschen‘ überhaupt“ zu berufen (S. 17), deren Grundgedanken „tief dem Erbe Durkheims verpflichtet“ seien (S. 7), ist als abstrakte und eher rhetorische Geste nicht ausreichend, um den systematischen Zusammenhalt des Werks zu belegen. Sowohl einer umfassenden Einschätzung als auch der produktiven Weiterführung von Halbwachs’ unzweifelhaft wichtigen Beiträgen und Anregungen sollte es auch zugute kommen, über die französische Rezeption hinaus andere Stimmen zu Gehör zu bringen. So wäre es angesichts der Zielsetzung des Bandes sicherlich lohnend gewesen, die zeitgenössischen Reaktionen im englisch- und deutschsprachigen Raum zu berücksichtigen, beispielsweise die Einschätzung von Halbwachs‘ Gedächtnistheorie durch Frederic Bartlett4, im Unterschied zu Blondel ein auch heute vielzitierter und respektierter Gedächtnispsychologe.

Anmerkungen:
1 Hinweise auf den Stand und v.a. auf die noch beträchtlichen Defizite eines solchen Unterfangens liefert die kürzlich publizierte, interdisziplinär geführte Diskussion von Aleida Assmanns Vorschlag für eine integrative Systematik von Gedächtnisprozessen auf individueller, kollektiver und gesellschaftlicher Ebene. Siehe Assmann, Aleida, Vier Formen des Gedächtnisses, in: Erwägen, Wissen, Ethik (EWE) 13 (2002), S. 183-238. Bemerkenswert ist hier besonders die Konfrontation kulturwissenschaftlicher Denkroutinen mit Ansätzen der Gedächtnispsychologie.
2 Als einführende Darstellungen zur Logik der Prüfung von Kausalhypothesen auf Grundlage wahrscheinlichkeitstheoretischer bzw. inferenzstatistischer Modelle vgl. etwa Hussy, Walter; Jain, Anita, Experimentelle Hypothesenprüfung in der Psychologie, Göttingen 2002, hier S. 24-44. Zur Nutzung der Korrelationsrechnung zur Bestimmung kausaler Beziehungen vgl. stellvertretend Bortz, Jürgen, Statistik für Sozialwissenschaftler, 5. Aufl., Berlin 1999, S. 456-467.
3 Eine Übersicht zur Messtheorie gibt etwa Orth, Bernhard, Grundlagen des Messens, in: Hubert Feger; Jürgen Bredenkamp (Hgg.), Enzyklopädie der Psychologie, Themenbereich B, Serie I, Bd. 3, Göttingen 1983, S. 136-180.
4 Bartlett warf in seinem Hauptwerk Halbwachs vor, dieser übertrage individuelle Merkmale des Gedächtnisses vorschnell auf die soziale Ebene, ohne zu klären, wie sich ein solch abstraktes Gebilde (von Bartlett als „group mind“ bezeichnet) beobachten lasse (Bartlett, Frederic C., Remembering. A Study in Experimental and Social Psychology, Cambridge 1932, S. 294-300). Wenngleich Bartletts Kritik als überspitzt und einseitig gelten kann, so ist festzuhalten, dass Halbwachs die Frage der empirischen Analyse und des schlüssigen Nachweises eines kollektiven Gedächtnisses kaum explizit problematisiert hat.

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